Allein in den Dolomiten, eine makabre Geschichte von einem Staudamm in den Alpen

Die Dolomiten

von | Sep 22, 2019

Heute bleibe ich noch einen Tag in den Dolomiten, bevor es morgen mit dem Roadtrip weiter geht. Dabei werde ich auf eine fürchterliche Tragödie stoßen, bei welcher eine Unzahl von Menschen ihr Leben verloren. Opfer von Selbstüberschätzung und Größenwahn. Es wird mich zum Vajont-Staudamm führen.

 

Ich habe mir als heutige Zielunterkunft noch ein Pensionszimmer am Fuße der Dolomiten nördlich von Treviso herausgesucht, damit ich mir noch einmal die Berge in Ruhe geben kann.

Ich habe wunderbar geschlafen, es war ruhig und das Bett war kuschelig warm. In der Nacht ging es erneut auf 6 Grad herunter, aber das war mir egal, denn auch dieses Zimmer war kuschlig warm.

Frühstück

Das Frühstück in der Unterkunft ist reichlich, es gibt frisches Brot, Käse, Schinken und tausend Sorten Kuchen. Das ist Italien. Und keine Butter. Und den besten Kaffee am Morgen, der erste italienische Kaffee – obwohl die letzten Frühstückskaffees allesamt gut waren.

Der Blaubeerkuchen

Als ich wieder zum Buffet gehe, um mir Saft zu holen, steht auf 7:00 Uhr ein wunderbarer Blaubeerkuchen mit Decke. Ich mag Obstkuchen ja gar nicht, aber Steffen liebte zum Beispiel Rhabarberkuchen. Und diesen hier hätte er auch sehr gemocht. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie sich etwas bewegt. Ja, das Messer bewegt sich. Es rutscht langsam in die Mitte von der Kuchenform. Nennt mich verrückt, aber ich muss lachen.

Der Steffengeist will Blaubeerkuchen.

Dolomitenvorland

Ich checke aus und fahre los. Durch kurvige enge Straßen schraube ich mich wieder hoch und runter. Ich sehe eine Kirche auf einem Berg, da will ich hin. Also kehre ich um. Ganz alleine bin ich hier oben, die Kirche thront über einem Tal in den Dolomiten. Alles ist ruhig, die Sonne strahlt klar, es ist kühl und der Himmel ist weit und blau. Ich gehe auf den Friedhof.

Friedhöfe und wir

Wir sind zu zweit immer auf Friedhöfe gegangen und jetzt gehe ich immer noch ständig auf Friedhöfe. Das finden viele sehr komisch. Aber Friedhöfe sind für uns Orte der Liebe. Und Trauer ist Liebe. Es ist der entgegengesetzte Pendelschlag der Liebe. Nur wer geliebt hat, kann auch trauern. Und genauso, wie man es nicht stoppen kann, sich zu verlieben, kann man auch nicht einfach aufhören zu trauern, traurig zu sein oder zu weinen. Das sind absolut klare ursprüngliche und ja, göttliche Gefühle. Das sind die wahrsten und unbeeinflussbarsten Gefühle, die es gibt.

Also betrete ich den Friedhof in diesem klaren Morgenlicht. Ich mag Friedhöfe, auf denen Bilder der Verstorbenen auf den Grabsteinen angebracht sind. So liegt da ein Mensch begraben, mit dem man sich auf diese Weise verbinden kann. So bekommen Buchstaben und Zahlen plötzlich ein Gesicht, ein Leben. Eine Idee davon, wer das war, der da begraben liegt.

Auf den Steinen sitzen Geckos und sonnen sich. Einer rennt nicht weg und schaut mich an. Ich sage zu ihm, na, bist du Steffen?  Abwechselnd hebt er die Vorderbeinchen. Ich muss gleich heulen. Also, es ist nicht so, dass Steffen als Gecko reinkarniert wurde. Ich glaube aber, die Verstorbenen zeigen sich in Tieren, die sitzen bleiben, Eichhörnchen, die da gucken und Federn, die ohne Vögel vom Himmel trudeln. Kann man wissenschaftlich sicherlich auseinander nehmen und kaputt trampeln, aber ich finde die Vorstellung extrem beruhigend.

Ich gehe weiter an den Urnengräbern vorbei. Steffen blieb früher an jedem Grab mit dem Bild eines jungen Menschen stehen und rechnete sich das Alter aus um dann entsetzt in sich hinein zu murmeln,

„oh Gott, wie schrecklich ist denn das, so jung zu sterben…“

So verlasse ich den stillen schönen Ort im Vorland der Dolomiten und fahre weiter, um einen Zwischenstopp an einem unglaublich malerischen Stausee zu machen.

Aber ich muss weiter, ich habe noch zwei Stunden Fahrt bis zu meiner heutigen Zwischenetappe.

San Daniele

Die Route führt mich durch San Daniele – welch Zufall. Der Ort, wo der leckere Schinken, dem Parmaschinken nicht ganz unähnlich, herkommt. Ich muss schmunzeln, die Wegweiser zeigen zum Castello di Prosciutto – das wäre Steffens Schloss gewesen.

Ich befinde mich schon in der Ebene südlich der Dolomiten, aber ich muss da ja wieder rein, rein in die Dolomiten, denn das war ja mein heutiger Plan. Abrupt biege ich nun nach rechts ab und fahre wieder in die Richtung der Berge. Diese thronen groß vor mir.

Steffen 2016 auf Sardinien

Und hier gibt es plötzlich auch unseren nordsardinischen Lieblings-Radiosender: Radio Kisskiss. Und dann kommt obendrein plötzlich dasselbe Lied wie damals, bei unserem ersten Sardinienurlaub. Das Lied, zu dem Steffen im italienischen Supermercado tänzelte, und man erahnen konnte, dass er mal ein Vorstellungsgespräch in der Dance Factory Dresden zum Modeln hatte. Laufen und tanzen konnte Steffen so wunderbar.

Und ich fahre nun durch dieses typische italienische Dorf und ich sehe die Leute an den Bars sitzen und Espresso trinken. Ich sehe Steffen vor mir, wie damals in Sardinien.

Alles ist so wie mit Steffen aber halt so schmerzlich ohne Steffen. Und schon wieder muss ich heulen. Er fehlt mir so schrecklich. Dieser Teil der Tour ist emotional wirklich heftig.

Die Dolomiten

Durch einen gigantischen Tunnel fahre ich in das Dolomitengebirge hinein. Hier sieht es auch wieder aus wie auf Sardinien. Die Straße ist super und hinter jedem Tunnel passiert eine andere Landschaft. Nach dem dritten Tunnel in den Dolomiten passiert das. Ein unglaublich türkiser Stausee.

Es riecht nach Gurkenbrot hier. Verrückt.

Ich fahre weiter, am Bergbach entlang, links und rechts die Berge, blau der Himmel und der Mond über mir. Es ist so schön hier, ich erspar mir die Bilder, ich kann die Dolomiten einfach nicht fotografieren, denn jedes Mal, wenn ich anhalte, um Fotos zu machen, werden die Fotos der Realität nicht gerecht. Es ist einfach zu perfekt, zu schön. Ich kann es einfach nicht fotografisch fassen.

Langsam nähere ich mich nun dem Ort Erto. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hanges sehe ich den gigantischen Bergrutsch.

Die ganze Seite des Berges liegt blank. Hier war der Stausee, der jetzt kein Stausee mehr ist. Hinter der Mauer liegen nur noch Geröllablagerungen.

Was hier 1960 passiert ist, erfahre ich gleich im Museum von

Longarone – Vajont

Da gerade im Museum eine Doku gedreht wird, geht der Museumsangestellte mit mir allein durch alle Räume und erklärt mir alles persönlich und beantwortet mir alle Fragen. Ich versuche nun das Ganze einmal kurz zusammen zu fassen:

Vajont-Stausee-Katastrophe

9. Oktober 1963 – 22:39 Uhr

Viele liegen schon im Bett und schlafen, als ein fürchterlicher Krach das Tal durchdringt.

270 Mio. Kubikmeter Gestein lösen sich in einem Bergrutsch vom Monte Toc, der sich an der rechten Flanke, von Longarone aus gesehen, vom Stausee befindet. Die Gesteinsmasse füllt den Staudamm innerhalb Sekunden komplett. Das nun verdrängte angestaute Stauseewasser muss irgendwo hin.

Ein Teil schwappt innerhalb von Sekunden Stauseeaufwärts, verfehlt knapp das Dorf Erto, da dieses durch einen Felsvorhang geschützt ist und zerstört andere kleinere Dörfer weiter oberhalb.

Jedoch schießt ein Sechstel der Wassermasse und die Gerölllavine 150 Meter über den Staudamm hinaus in das T-förmig vor ihm liegende Tal. Durch das schmale Talstück unterhalb des Staudamms wird die Geröll-Wassermasse komprimiert und beschleunigt. Der der Welle vorausgehende Luftdruck trifft mit der doppelten Kraft der Hiroshima-Atombombe auf das quer vor ihm liegende schlafende Örtchen. Kurz danach folgen die Wasser- und Geröllmassen.

Die Welle schwappt an die Talwand gegenüber und schießt flussaufwärts und begräbt das ganze Tal unter Schutt, Wasser und Geröll.

2000 Menschen sterben in der Nacht. Die Hälfte der Verstorbenen wird nie gefunden werden, denn sie sind vom Druck zerfetzt, durch Geröll zermalmt und begraben unter Schlamm und Schutt.

Nach der Katastrophe bildet sich unterhalb der Staumauer ein See, der durch das Geröll ausgespült wurde. Er ist 50 m tief und verdeutlicht die Wucht der tödlichen Masse.

Später versuchte man die Betreiber der Staumauer zu verurteilen, da Geologen schon vor dem Bau der Staumauer vor dem Erdrutsch gewarnt haben, welcher letztendlich durch die gigantischen angestauten Wassermassen ausgelöst wurde. Alle Zahlen dazu findest Du noch hier.

Die Staumauer von Vajont

Am Ende des Prozesses wurden lediglich zwei Mann verklagt: einer musste für ein Jahr, der andere für ein paar Monate ins Gefängnis.

Betroffen und flau im Magen verlasse ich das Museum und gehe noch mal in die Kirche des Ortes. Ein Orgelspieler spielt. Ich setz mich kurz hin und lasse das Gehörte sacken.

Meine Unterkunft für diese Nacht

Dann fahre ich zu meiner heutigen Unterkunft:

Locanda di San Lorenzo
http://www.locandasanlorenzo.it/

In Puos d´Alpago

Ich habe Hunger, aber die Küche hat zu. Aber sofort kredenzt man mir eine Platte mit Schinken und Käse und einen Pinot Grigio aus der Gegend. Gleich gehts mir besser.

Danach schnappe ich mir gestärkt das Fahrrad und drehe noch eine Runde.

Ich kaufe mir auf dem Rückweg eine Pizza und trinke ein Bier. Pizza schmeckt in Italien überall, genauso wie der Kaffee. Da kann man keine Fehler machen.

Das Abendbrot in meiner Unterkunft kostet im Menü 80,00 EUR und ist mir heute zu teuer und die Staudamm-Nummer ist mir auf den Magen geschlagen. 

Der Preis des Menüs ist natürlich begründet, denn das Restaurant steht im Guide Michelin. Irgendwann anders also mal, aber nicht heute.

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