St. Aegidien

Oschatz – St. Aegidien

von | Nov 28, 2020

Wer hätte das gedacht, auch diese Reha neigt sich dem Ende zu. Daher werde ich heute noch einen kleinen Beitrag über Oschatz und dessen Stadtkirche St. Aegidien schreiben.

 

Wie letztens mein Papa am Telefon so schön zu mir sagte: ach, da ist die Zeit ja schon rum! Am Anfang deiner Reha wollte ich gar nicht fragen, wann du zurückkommst, denn die Dauer schien ja ewig.“ Schöner hätte ich es nicht sagen können.

Also habe ich diese Woche meinen letzten Wochenplan bekommen. Also der Plan, auf dem meine täglichen Behandlungen für eine ganze Woche stehen. Und dieser endet genau in einer Woche, denn dann geht es endlich zurück in mein geliebtes Berlin.

Letztens bingewatchte ich „Bad Banks“ und musste fast weinen, als ich die Zwischensequenzen aus Kreuzberg sah. Da hat sich wohl ganz klammheimlich ein Heimatsgefühl in mein Herz eingeschlichen! Und welch Überraschung: meine Heimat ist Berlin!

Ich habe jetzt genug sächsisches/thüringisches/harzerisches/erzgebirgisches Geknödel für Jahre gehört. (sorry, Leute, ich kann nichts dafür, ich ertrage es einfach nicht mehr) – ich muss zurück nach Berlin, zurück in die Zentrale der Irren.

Aber das Ganze nicht, ohne dass ich nicht noch einmal eine Lanze für diese Gegend gebrochen habe. Oder ist das schon das Stockholm-Syndrom? Egal. Oschatz war echt schön.

Oschatz

Hier wo ich bin, ist alles nur 30 Minuten mit dem Auto entfernt. Von Stadt zu Stadt sind immer jeweils 30 Minuten. Manchmal fährst du über die Elbe und manchmal eben nicht. Auch Burger King ist nur 30 Minuten entfernt. Generell lautet hier die Antwort auf sämtliche Entfernungen: 30 Minuten. Also fuhr ich – noch vor dem Lockdown – nach Oschatz, denn auch Oschatz befindet nur 30 Minuten von hier entfernt.

Nachdem ich mir schon Grimma, Torgau und andere Städte dieser Art angeschaut hatte – was tut man nicht aus Langeweile hier so am Wochenende – war nun auch mal Oschatz dran.

Dresdner kennen vielleicht bereits die Oschatzer Straße in F…ck-Pieschen, denn dort gibt es einen Fleischer. Aber wo zur Hölle liegt eigentlich dieses Oschatz? Und warum ist diese Stadt so besonders?

Entsprechend motiviert und semi-neugierig fuhr ich also in diese Stadt. Was sollte mich hier nach den Städten Grimma und Torgau noch überraschen können? Kennste eine, kennste alle, dachte ich mir. Aber dann geschah ein kleines Wunder:

St. Aegidien

Während man über die sanft-hügelige Landschaft Nordsachsens mit lauter Musik im Auto durch die gleißende Sonne brettert – die fein geschwungenen Kurven laden einfach dazu ein – sieht man schon weit aus der Ferne die beiden Türme der riesigen Kirche St. Aegidien dräuen. Ähnlich einer Landschaftsdominante führt dieses imposante Gebäude direkt in das pittoreske Zentrum dieser durchaus niedlichen Stadt. Wer Görlitz mag, dem gefällt ganz sicher Oschatz.

Ohne weitere Probleme finden wir einen kostenlosen Parkplatz. Das bin ich gar nicht mehr gewohnt, dass sich die Parkplatzsuche so sorglos gestaltet.

Wir? Ja, ich hatte mir einen jungen Mann für die Ausflüge gekrallt. Aber die sächsischen Jungs sind viel zu anständig. Große Klappe und dann passiert immer nix. #augenverdreh #berlincalling

Also laufen wir nun durch die schmalen Gassen in Richtung dieser imposanten Stadtkirche. Man, die ist echt groß! Dort angekommen stellen wir fest, dass in der Kirche gerade eine Orgelprobe stattfindet, wie geil ist dass denn, bitte?

Wir wollen gerade in die Kirche hineingehen, als uns eine Dame, die mit ihrer Freundin gerade auf den Stufen vor der Kirche Kaffee trinkt, anspricht:

Wollt Ihr die Türmerwohnung sehen?

Ein Wort ergibt das andere, sie denkt wahrscheinlich, wir sind ein Ehepaar beim Wochenendtrip, so homogen sehen wir zwei aus. Bei Interesse an der Türmerwohnung sollten wir uns einfach 20 Minuten vor Sonnenuntergang wieder hier auf der Treppe einfinden, damit wir romantisch den Sonnenuntergang in der Türmerwohnung genießen können, sagt sie.

Was wir doch wieder für ein Glück haben!?!

Denn während des Corona-Lockdowns gibt es natürlich keine Besichtigungen und dies war der letzte Abend vor dem Lockdown. Wären wir nur einen Tag später hingefahren, hätten wir nicht dieses Glück gehabt.

Stadt- und Waagenmuseum

Irgendwie müssen wir jetzt die Zeit bis zum Sonnenuntergang herumbekommen und gehen dafür in das Stadt- und Waagenmuseum von Oschatz. Ein Waagenmuseum… nerdiger geht es wohl kaum.

Das kleine Museum befindet sich genau an der Stadtmauer, die das Stadtzentrum umgibt und beinhaltet auch einen 25m-hohen Wachturm, welcher wohl 1377 errichtet wurde. So kann ich schon mal meine Knie für die Besteigung der Türmerwohnung später warmsporteln.

Außerdem gibt es in dem Haupthaus des kleinen Stadtmuseums gerade eine Puppenstuben-Ausstellung mit all dem Miniinventar der Puppenstuben aus der Kindheit. Ein kurzer Backflash zerrt an meinem Herzen.

Türmerwohnung in St. Aegidien

Es wird langsam Abend. Das klare sonnige Herbstlicht des heutigen Tages lässt langsam nach, also gehen wir wieder zurück in  Richtung St. Aegidien, der Stadtkirche von Oschatz.

Auf der Treppe warten wir kurz auf die nette Dame, welche wenige Minuten später mit einem Beutel in der Hand erscheint „ich habe noch ein paar Sektgläser mitgebracht“. Ach, wie toll, so reizend!

In der aufkommenden Dunkelheit schließt sie ganz allein für uns die Kirche auf. Was für ein magischer Moment, denn wir haben nun die ganze Kirche jetzt nur für uns.

Stille und Dunkelheit umfängt uns, als sich die riesige Holztür hinter uns schließt.

Wir stehen nun im Vorraum zum Kirchenschiff. Rechts befindet sich eine große Tür, welche die Dame gerade für uns aufschließt. Hinter dieser Tür befindet sich das Treppenhaus, welches nach 199 Stufen hinauf in die Türmerwohnung führt.

Glücklicherweise wurden die Kniesehnen bereits in der Bezwingung des Wachturms geschult, also geht es jetzt zackig voran nach oben. Am Anfang sieht das Treppenhaus noch ganz normal aus, aber umso höher wir kommen, umso enger und anstrengender wird es.

Türmerfamilie Quietzsch

Während der Erklimmung der 199 Stufen erzählt uns die nette Dame die Geschichte der Türmerfamilie von Oschatz, die hier von 1899 bis 1961 mit 13 Kindern, die allesamt auch hier oben geboren wurden.

Die Türmerfamilie war dafür zuständig, die Stadt vor Feuern im Umkreis von 5 km zu warnen und musste Tag und Nacht Wache halten. Bei Feuer eine bestimmte Glocke geläutet und in die Himmelsrichtung des Feuers wurde eine Fahne gehängt, damit die Feuerwehr wusste, wohin sie ausrücken musste.

Die Fahne funktioniert heute noch als Signal. Nur ist sie jetzt weiß und verkündet, ob die Türmerwohnung geöffnet ist. Wenn nicht gerade Lockdown oder Corona ist, kann man die Wohnung von Ostersamstag bis zum Reformationstag besichtigen. Noch mehr Details zu den Öffnungszeiten und Coronabedingungen erfahrt ihr hier.

Aber erst einmal geht es ganz nach oben, auf den obersten Turmumgang um den Sonnenuntergang hinter Oschatz mit einem Glas Sekt genießen. Was für ein unglaublicher Ausblick!

Als die Sonne untergegangen ist, wird es ganz schön kalt hier oben. Hier weht ein Wind, der am Boden gar nicht zu spüren war. Also gehen wir wieder in die muckelig kleine Türmerwohnung, die sich über drei Etagen erstreckt, hinein.

Während wir die winzig kleinen Räumlichkeiten begehen, von Etage zu Etage klettern und uns wie in einer Puppenstube fühlen – irgendwie scheint das das Thema des Tages zu sein – werden wir demütig.

Demut

In dieser Wohnung wurden in dem Zeitraum, in dem die Türmerfamilie hier wohnte, 13 Kinder geboren. Selbst hochschwanger hat die Mutter noch die Einkäufe nach oben schleppen müssen. Die Hebammen mussten hier hochkommen und damals gab es auch noch auch kein fließendes Wasser hier oben.

Verstorbene wurden heruntergetragen und so ein Möbelkauf wollte natürlich auch gut durchdacht sein.

Wenn ihr denkt, es ist schlimm, wenn ihr im Auto etwas vergessen habt: das hier ist schlimmer!

Wir quatschen uns fest. Die Führung ist unheimlich spannend. Die nette Dame kommt vom hundertsten ins tausendste und hat unendlich viel zu berichten, dass ich gar nicht alles hier aufschreiben kann.

Ich kann euch nur raten, wenn ihr mal hier sein solltet, besucht unbedingt diese Türmerwohnung hier in der Kirche. Es ist so interessant und bringt eine komplett neue Blickweise auf unser Leben jetzt und das entbehrungsreiche Leben damals, was gerne auch mal verklärt wird.

St. Aegidien
Kirchpl. 2, 04758 Oschatz

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