Eine Woche der Rückblenden. Vor nur einem Jahr nahm Steffens Leben ein jähes Ende. Diese Woche rekapituliere ich jeden einzelnen Tag

Rückblende

von | Feb 18, 2020

In dieser Woche jährt sich das erste Mal Steffens Todestag. Gerade ist die ganze Woche eine einzige Rückblende über das vor einem Jahr Geschehene. Ich fühle mich noch kraftloser als sonst. Und aus unerfindlichen Gründen ist das ganze verschüttete Wissen dieser Woche wieder da und unglaublich präsent in meinem Kopf.

Sogar das Wetter ist ein Protokoll unserer Gefühle.  Das Wetter mal wieder. Es ist immer ein Indikator für unsere Liebe, unser Herz und unser gemeinsames Leiden. Letztes Jahr nach Steffens Tod gab es an drei aufeinanderfolgenden Tagen einen unglaublich schönen orange-pinken Sonnenuntergang. In diesem Jahr wird es nur regnen und stürmen.

Montag

Ich weiß, dass heute vor einem Jahr Montag, der 18.02.2019 war. Steffen habe ich zur Charité gebracht, da er dort seinen monatlichen Krebsnachsorgetermin hatte. Ihm ging es schon seit Tagen so furchtbar schlecht, aber er wollte diesen Termin abwarten. Warum soll er auch einem Allgemeinarzt alles neu erklären, wenn sie doch in der Charité seine Akte haben. Sein ganzer Bauch war aufgedunsen und er war blass und schlapp.

Ich war so ungeduldig. Wie geht es denn nun weiter mit uns, mit unserer Firma. Ich hatte große Aufträge angenommen, endlich musste wieder Geld verdient werden. Das halbe Jahr „Schonzeit“ war nun um. Und Steffen ging es nahezu stündlich beschissener.

Ich weiß noch, ich saß zuhause und wartete auf den erlösenden Anruf, dass ich ihn in der Charité endlich abholen kann. Ich hockte über Angeboten und konnte mich nicht auf das Arbeiten konzentrieren.

Steffen musste zum Röntgen, da niemand wusste, was in seinem Bauch los ist. Er musste in die Abteilung, in der er damals den Port gelegt bekommen hatte. Diese Erfahrung war so traumatisch für ihn, da sie an und in ihm herumgerupft haben, Steffen war lediglich unter Teilnarkose betäubt und fühlte sich wie eine Weihnachtsgans.

Schock

Damals im August 2018 war er noch stark und zuversichtlich. Doch an diesem Montag vor einem Jahr im Februar 2019 brach er weinend auf dem Gang zusammen. Die Rückblende ist zu schmerzhaft. All das bisher furchtbar Erlittene drängt schmerzhaft nach oben. Und nach einem halben Jahr in der Hölle hat Steffen auch keine Kraft mehr, das Geschehene wegzudrängen.

Und ganz nebenbei sagt ihm kurz darauf sein Arzt, „oh, Herr Glaeser, die Blutwerte! Es sieht ganz so aus, als wäre der Krebs wieder da. Sie können jetzt aber wieder nach Hause, hier haben sie ein Rezept für ein Mittel gegen die Verstopfung.“ Und auf Steffens Rückfrage, was denn wohl das Riesige da in seinem Bauch sei, sagt der Internist der Charité nur lapidar „hm, ja, nun, eine hartnäckige Verstopfung“.

Natürlich hole ich Steffen wieder in der Charité ab und beschwichtige ihn. „Nein, das kann doch gar nicht sein, der Krebs ist nicht zurück“. Was wusste ich denn? Gar nichts. Ich wollte und konnte es nicht akzeptieren.

Ich denke, an diesem Montag hat Steffen aufgehört zu kämpfen. Was kann ein Mensch ertragen?

Dienstag

Ich musste arbeiten. Ich hatte zwei neue Auftraggeber angenommen und war aufgeregt. Mal wieder alles allein einkaufen, allein kochen und alleine ausliefern. Smalltalk, „wie lange machen sie das schon, können wir wieder bestellen? Bla bla bla.“

Über welche Zukunft soll ich reden, wenn mein Mann krank zuhause liegt?

Auf dem Rückweg kommt im Radio im Auto ein Interview mit einer Schriftstellerin. Sie hatte ein Buch über den Tod ihres Mannes geschrieben. Ich atme tief durch. Was für ein Glück, das uns das nicht betrifft. Ich sehe in meiner Rückblende immer noch die Stadtautobahn vor mir, auf der ich fahre, während ich das denke und aus Mitleid weinen muss.

Wieder zuhause angekommen, liegt Steffen schwach im Bett. Er hat nichts gegessen und wenig getrunken. Ihm geht es so beschissen. Er hat große Schmerzen und schläft nur noch und ist so schlapp.

Ich setze mich auf den Bettrand, stiere aus dem Fenster und plappere gedankenlos und vom Tag wütend-erschöpft vor mich hin: „ich würde auch mal so gerne den ganzen Tag nur im Bett liegen“.

Ich dummes Ding. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir immer noch für diesen Satz Vorwürfe mache.

Das erste Mal seit langem mustere ich nun Steffen ganz in Ruhe, so, wie er gerade da vor mir liegt. Seine großen blau-grauen Augen glänzen nicht mehr. Steffens ach so starken und muskulösen Arme sind so schmal geworden und seine Haut fühlt sich anders an. So wie bei alten Menschen im Pflegeheim, ein bisschen wie dünnes Papier.

Wann sind Steffens Arme so dünn geworden? Wann ist das alles passiert?

Ich schaue ihn an und denke mir „oh mein Gott, unser Weg zurück in die Normalität wird so lang und so furchtbar hart werden“

Mittwoch

Schon die ganze Woche schlafe ich auf dem Sofa, damit Steffen unser gemeinsames Bett für sich allein hat. Er schläft jede Nacht so unruhig, wirft sich hin und her und ist schweißgebadet. Da ich ja dennoch arbeiten muss, brauche ich wenigstens ein bisschen Schlaf.

Ich verlasse auch an diesem Morgen wieder ganz leise die Wohnung, da ich einen Cateringauftrag habe. Die Küche ist gerade mein kleiner Rückzugsort in die Normalität.

Doch 13:00 Uhr meldet sich Steffen bei mir, die Charité hätte angerufen, seine Blutwerte sind wohl nicht so gut, sie haben extra ein Bett für ihn frei gemacht.

Ich habe eine böse Ahnung, die ich ignoriere. Scheiße. Es geht wieder weiter mit der Charité. Das war es dann wohl mit unserem Traum, gemeinsam das Catering weiterzuführen. Nun muss ich mir wirklich eine Alternative zum Geldverdienen suchen.

Ich lasse mir diesmal mit der Auslieferung Zeit, so als könnte ich auf diese Weise die Zukunft herauszögern.

Doch irgendwann muss ich los und liefere das Essen aus und fahre nach Hause, um Steffen für die Charité abzuholen.

Zufall?

14:30 Uhr komme ich am 20.02. zuhause an. Steffen sitzt auf der Treppe vor dem Haus. Als er mich kommen sieht, erhebt er sich mühsam und kommt langsam zum Auto geschlurft. Er ist so schwach. Dieses Bild werde ich in der Rückblende meines Lebens sicher nie vergessen werden.

14.30 Uhr am 20.03. würde Steffens Kremation stattfinden. Das weiß ich natürlich an diesem Mittwoch noch nicht. Am 20.01. sieht Steffen das letzte Mal seine ganze Familie bei der letzten gemeinsamen Familienfeier.

Steffen verlässt nun an diesem 20.02.2019 das letzte Mal mein Haus und damit auch meine Wohnung. Nur einen Monat später wird sein Körper die irdische Welt verlassen.

Ich fahre Steffen in die Charité und bringe ihn dort in sein Zimmer. Er ist zu schwach, um die Plastikfolie, mit der das Krankenbett aus hygienischen Gründen bespannt wurde, vom Bett zu ziehen und bittet mich darum, dies für ihn zu tun. Er ist so müde und möchte sich nur noch ins Bett legen.

Wir küssen uns kurz. Das letzte Mal.

Ich glaube selbst jetzt immer noch fest daran, dass es nur irgendeine dubiose Magen-Darm-Geschichte ist und wenn nicht die Charité, wer sonst könnte das wieder heil machen?

Als Steffen und ich uns das letzte Mal gegenüberstehen, spüre ich nur Schmerz, Verzweiflung, Rauschen, Hilflosigkeit. Empathie ist manchmal furchtbar. Ich spüre was er spürt, was ich spüre, was er spürt.

Ein Crescendo aus Schmerz.

Ich muss weg, ich halt das einfach nicht mehr aus.

Donnerstag

Mit dem festen Glauben „Die Charité macht das schon“ kümmere ich mich im Rückblick heute um das Catering, die Wohnung, eine eventuelle Neuorientierung und mich.

Am Nachmittag telefonieren Steffen und ich:

Steffen meint, irgendwas mit der Niere und der Leber funktioniert nach Aussage der Ärzte nicht richtig, sie mussten ihm gerade 2 Liter Flüssigkeit aus dem Bauchraum mit einer riesigen Spritze ziehen und seine Augen sind gelb verfärbt.

„hat das weh getan?“ frage ich „nein, die Schwestern sind so lieb“. Steffen klingt schwach und fängt fast an zu weinen. „soll ich noch mal vorbeikommen?“ „nein, du hast doch so viel zu tun! Ich bin müde und muss schlafen“.

Das waren unsere letzten gemeinsamen Worte.

Nein, niemand hat uns vorgewarnt, dass Steffen sterben könnte oder würde.

Niemand.

Rückblende

Wenn diese Woche erstmal durchgestanden ist, wird es wieder anders bei mir werden. Das ganze Leben fühlt sich für mich mal wieder wie eine gigantische Schallplatte an.

Die Abtastspitze des Lebens folgt der vorgegebene Rille und an immer derselben Stelle gibt es diesen einen Kratzer. Manchmal gibt es noch mehr Kratzer. Große und Kleine.

Immer an derselben Stelle.

Und man muss durch diese Dissonanzen durch. Immer wieder aufs Neue. Das tut weh. Natürlich. Und es ist das Mindeste, was man für den armen Verstorbenen tun kann.

Rekapitulieren. Rückblende. Was habe ich damals gesagt? Wie hat sich dieser Satz wohl für den anderen angefühlt?

Es ist die beste Möglichkeit, sich zu vergeben.

Warum habe ich das gesagt?

Wie habe ich mich zu dem Zeitpunkt gefühlt? Wie konnte ich nur so etwas sagen?

Was würde Steffen jetzt sagen, wenn er mit mir reden könnte? Würde er mir verzeihen?

Natürlich würde er mir verzeihen. Weil er mich liebt. Und ich muss in der Rückblende lernen, mir zu verzeihen, da ich unter einem furchtbaren Druck stand.

Sich selbst verzeihen, sich vergeben. Sich auch einmal selbst in den Arm zu nehmen und sich wert zu schätzen, was man da alles durchgestanden hat. Das muss man ganz allein tun, das nimmt einem keiner ab.

Kein Freund, kein Partner, kein Gott.

Und am schlimmsten für mich ist es, hilflos neben Steffen gestanden zu haben und ihm einfach nicht helfen zu können. Ihn so leiden sehen zu müssen.

Einen geliebten Menschen so leiden sehen zu müssen, ist das Schlimmste auf der Welt.

Das schmerzt so sehr. Das ist das einzige, was mich mit Steffens Tod versöhnt, dass er nun endlich keine Schmerzen mehr hat.

Wir haben uns damals im Dezember vor dem finalen PET-Scan geschworen, dass wir gemeinsam von meinem Balkon springen, wenn der Krebs wieder zurückkehrt. Ein Leben ohne Steffen erschien sinnlos.

Das Schicksal hat eine andere Entscheidung für uns, für mich, getroffen.

Deswegen bin ich noch hier und mache weiter.

Man kann die Schallplatte nicht wechseln, aber man kann lernen, die schöne Melodie trotzdem noch durch die Kratzer hindurch zu genießen.

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